Ein gescheitertes Projekt und seine Hintergründe – Teil 2

Teil ➋ ▶︎Seit 1936 bestanden Pläne, in der Kleinstadt Tütz (heute Tuczno in Polen) ein Heim der Hitlerjugend zu errichten. Der nachfolgende Arbeit, die in polnischer Sprache erstmalig im Jahr 2024 unter dem Titel »Dom Hitlerowskiej Młodzieży w Tucznie« im Band II des Jahrbuchs »Wałeckie Zeszyty Muzealne« erschien, berichtet anhand überlieferter Akten von diesem Projekt. Der vorliegende zweite Teil behandelt die Jahre 1938-1941.
II. Ein Neubau in schönster Lage
Die Entwicklung des nächsten halben Jahres lässt sich aus den in Schneidemühl vorhandenen Akten nicht nachvollziehen. Es ist jedoch bekannt, dass die Reichsjugendführung im Frühjahr 1938 eine neuerliche »Heimbeschaffungsaktion« konzipierte, die einen besonderen Schwerpunkt »in den Grenzgebieten des deutschen Ostens« hatte.1Die Grundsteinlegung für 578 HJ.-Heime. In: Deutsches Nachrichtenbüro, Berlin, 13. Juni 1938, S. [1]. In diesem Zusammenhang stellte das preußische Innenministerium per Erlass vom 21. März 1938 der Regierung in Schneidemühl eine Summe von 100 000 Reichsmark zur »Durchführung von H.J.-Heim-Bauten zur Verfügung«.2Schreiben von Cornbergs an den Bürgermeister von Tütz (Konzept) vom 14. April 1938. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Dort auch die weiteren Zitate. Am 14. April 1938 teilte von Cornberg Geserich mit, dass davon 17 500 Reichsmark – also mehr als das Doppelte der angeforderten Beihilfe – für das Bauprojekt in Tütz vorgesehen seien. Mit den bereits gewährten Zuschüssen stand nun eine Gesamtsumme von 25 000 Mark für das HJ-Heims in Tütz bereit. Die neuerliche Beihilfe war allerdings an Bedingungen geknüpft:
»Voraussetzung ist, dass die Gemeinde Tütz die dauernde Unterhaltung des Heims übernimmt und den Grund und Boden, auf dem das H.J.-Heim erbaut wird, unentgeltlich zur Verfügung stellt.«
Außerdem war mit »dem Gebietsbeauftragten für die Heimbeschaffung […] die »engste Zusammenarbeit erforderlich«. Die Leitung des Projekts sollte jetzt das Bauamt in Schlochau übernehmen, das »sofort Bauzeichnungen und Kostenanschläge mit einem Lageplan« vorzulegen hatte.
Am 8. Mai 1938 informierte von Cornberg auch das Erziehungsministerium, das der »Herr Reichs- und Preußische Minister des Inneren« 17 500 RM als Beihilfe für das H.J.-Heim in Tütz« gewährt habe.3Schreiben von Cornbergs an den Reichs- und preuß. Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin (Konzept) vom 8. Mai 1938. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Dort auch die weiteren Zitate. Da die »Finanzierung dieses Heimes, dessen Kosten etwa 25 000 RM betragen werden, […] somit […] gesichert« sei, äußerte er die Hoffnung, »in Kürze mit dem Bau beginnen zu können«.

Es darf bezweifelt werden, dass es von Cornberg mit dieser Äußerung ernst war. Er selbst verließ Schneidemühl acht Tage nach Niederschrift, um eine Stelle bei der Regierung in Trier anzutreten.4Zum 16. Mai 1938 wurde »Reg.-Direktor Dr. Frhr. v. Cornberg von der Regierung Schneidemühl […] an die Regierung in Trier« versetzt. Personalien. In: Amtsblatt Schneidemühl, 14. Mai 1938, S. 109. Sein Leitungsamt in Schneidemühl blieb zwei Monate verwaist, denn erst Ende Juli wurde Oberregierungsrat Raguse vom Polizeipräsidium in Halle zu seinem Nachfolger ernannt.5Personalien. In: Amtsblatt Schneidemühl, 23. Juli 1938, S. 166. – Raguse stand seit 1919 im preußischen Staatsdienst und war im August 1933 zum Oberregierungsrat ernannt worden. Weitere biografische Daten fehlen. Taschenbuch für Verwaltungsbeamte. Berlin 1939, S. 410. Ohnehin stand seit März 1938 fest, dass die gesamte Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen im September 1938 aufgelöst werden würde, was zu weiteren Brüchen bei der Verwaltung führen musste.6Ein kurzer Überblick zur Geschichte der Provinz findet sich bei Haik Thomas Porada: Grenzmark Posen-Westpreußen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32545 (Stand 04.10.2021). Das alles waren schlechte Vorzeichen für einen raschen Baubeginn.
In Tütz zeigte sich Geserich angesichts der neuen Entwicklung zögernd und es vergingen zwei Monate, bis er der Regierung in Schneidemühl die geforderte »Verpflichtungserklärung« zugehen ließ. Seine Zurückhaltung mag auf von Cornbergs Ausscheiden zurückzuführen sein, hatte gewiss aber auch damit zu tun, dass das Projekt längst über die ursprüngliche Absicht hinausgewachsen war, das örtliche Armenhaus prestigeträchtig, aber ohne Belastung der städtischen Finanzen in ein HJ-Heim zu verwandeln.
Welche ideologische Aufladung das Thema Heimbeschaffung inzwischen besaß, zeigte eine Propagandakundgebung, die am 12. Juni 1938 am »Fuß der Ruinen der alten Ordensritterburg« von Schlochau »vor 8000 Pimpfen, Hitlerjungen und BdM.-Mädel« stattfand.7Die Grundsteinlegung …, a. a. O. – Dort auch die weiteren Zitate. Dort legten Reichsjugendführer Baldur von Schirach und Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) den symbolischen Grundstein zum Bau von weiteren 578 HJ-Heimen, von denen 200 »in den Grenzkreisen des deutschen Ostens« und 38 im Bereich des NSDAP-Gaus Kurmark – dem die Grenzmark zugehörte – entstehen sollten. In seiner Rede bezeichnete es Frick als »eine der vornehmsten Pflichten der Gemeinden, für Hitlerjugendheime zu sorgen, in denen nach dem Willen des Führers […] die gesundheitliche, geistige, charakterliche und weltanschauliche Formung der deutschen Jugend durch die HJ. erfolgt.« Dazu passend hatte auch das preußische Innenministerium in einem Erlass vom 10. März 1938 die »HJ-Heimbeschaffung« zu einem »vordringlichen Aufgabengebiet« in der »Haushaltsführung der Gemeinden« erklärt und jede Gemeinde verpflichtet, für anfallende Baukosten einen Betrag »von etwa 75 bis 100 RM je 1000 Einwohner« im Haushaltsplan einzustellen.8Amtliche Bekanntmachungen. In: Das Junge Deutschland, 1. Mai 1938, S. 236.

Es verwundert daher nicht, dass die Gemeinde Tütz sich am 8. Juli 1938 nicht nur verpflichtete, für den Bau »den erforderlichen Grund und Boden [mit der] Grundbuch-Katasterbezeichnung Tütz Blatt 262 […] unentgeltlich zur Verfügung« zu stellen, sondern außerdem einen »Barzuschuß von RM 500-1500« in das Projekt einbrachte.9Erklärung der Gemeinde Tütz vom 8. Juli 1938. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Weiter erklärte sich die Stadt bereit, »die dauernde Unterhaltung des Heimes einschließlich der Inneneinrichtung zu übernehmen«. Wie aus der Verpflichtungserklärung hervorgeht, war das genannte Grundstück bislang weder vermessen noch als Bauland ausgewiesen.
Da das preußische Grundbuch von Tütz nur teilweise erhalten blieb, lässt sich die Lage der Parzelle 262 heute nicht mehr feststellen.10Das Archiwum Państwowe w Koszalinie verwahrt nur die Bände X (Nummern 370-419), XVI (Nummern 580-608) und XXXI (Nummern 1023-1052) des Grundbuchs. Es ist auch unbekannt, an welchem der drei Seen, von Tütz das Heim in »schönster Lage« und »mit Badestrand«2 entstehen sollte.11Schreiben Cornbergs vom 1. Oktober 1937, a. a. O. Es gab zu jener Zeit sowohl am Tafelsee – heute Jezioro Zamkowe – als auch am Lüptowsee – heute Jezioro Liptwowskie städtische Badeanstalten.12Tütz, Kreis Deutsch Krone, Grenzmark Posen-Westpreußen. Handgezeichnete Karte im Maßstab 1:3125 mit Angabe der Grundstückseigentümer vor 1945, gezeichnet von Klaus Wiese in Dinslaken im Januar 1957. Der Bauplatz lag jedenfalls in einem Naturschutzgebiet, denn am 22. August 1938 teilte Geserich dem Regierungspräsidenten in Schneidemühl mit, die Bauzeichungen hätten wegen Unklarheiten […], die vor allem auf die Schutzbereichsbeschänkungen zurückzuführen sind«, bislang nicht erstellt werden können.13Schreiben Geserichs an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 22. August 1938. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Dort auch die weiteren Zitate. Jetzt sei der Bauplatz aber »freigelegt« und dem Architekten der Auftrag erteilt, »umgehend die Bauzeichnungen, Kostenanschläge und den Lageplan vorzulegen«.
Als Architekt für den Neubau stand inzwischen der Diplom-Ingenieur Alfred Knobel fest, der erst vor kurzem von Berlin nach Schneidemühl umgezogen war14Im Bau-Adressbuch vom April 1938 ist Knobel noch mit der Anschrift »Berlin-Südende, Seestraße 8« eingetragen (Reichsadreßbuch mit Verzeichnis der Architekten. April 1938, S. 177.), im Adressbuch von Schneidemühl für 1938 ist er nicht aufgeführt. Weitere Lebensdaten von Knobel sind nicht bekannt. und dort sein Büro im Haus Gartenstraße 662 – der heutigen Ulica Ojca Maksymiliana Marii Kolbe – hatte.15Schreiben Geserichs an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 29. August 1938. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Dort auch die weiteren Zitate. Knobel hatte kurz zuvor ein »Heim der Hitler-Jugend und Jugendgelände« in Preußisch Friedland (heute Debrzno) errichtet, dessen Modell auf der 2. Deutschen Architektur und Kunsthandwerk-Ausstellung im Haus der Kunst in München präsentiert wurde.16K. Müller-Kindler: 1. und 2. Deutsche Architektur- und Kunsthandwerk-Ausstellung (Dissertation). [München] 2020, S. 303.[/mfn| Vermutlich war er auch für ein ähnliches Projekt in Schlochau zuständig, denn die Regierung in Schneidemühl fasste den Heimbau dort mit dem in Tütz zu einem Vorgang zusammen.16Schreiben des Regierungspräsidenten in Schneidemühl an die Reichsjugendführung, Abteilung Heimbeschaffung, in Berlin vom 9. November 1938 (Konzept). In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Es ist wohl davon auszugehen, dass Strobel die drei Heime nahezu identisch plante, denn die Bauzeichnungen für Tütz – die leider nicht erhalten sind – lagen schon im September 1938 vor. Sie wurden am 3. Oktober vom Arbeitsausschuss für HJ-Heimbeschaffung in Berlin genehmigt, der dem neuen Haus den offiziellen Titel »Heim der Hitler-Jugend« verlieh.17Bauschein für den Neubau des H-J-Heimes der Stadt Tütz vom 3. Oktober 1938 (Abschrift). In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Am 10. November 1938 äußerte sich auch Cornbergs Nachfolger bei der Regierung in Schneidemühl zustimmend:
»Mit dem Grundriß und dem Aufbau des H.J.-Heimes bin ich einverstanden. Es wird zunächst das Erdgeschoß ausgebaut. Als Raum für Brennmaterial ist vorerst der Fahrradraum ausersehen. Sollte dieser für die kommende Zeit nicht ausreichen, so wird ein besonderer Fahrradstand errichtet. Die Baukosten – ohne Grundstück – sind angemessen.«18Schreiben des Regierungspräsidenten in Schneidemühl an Geserich vom 10. November 1938 (Durchschlag). In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert.
Die verspätete Rückmeldung aus Schneidemühl war gewiss darauf zurückzuführen, dass die dortige Verwaltung zum 1. Oktober 1938 der pommerschen Regierung in Stettin unterstellt worden war. Von Cornbergs Nachfolger hatte daher vor seiner Zustimmung erst das »Einvernehmen mit der Gebietsführung Pommern« der Hitlerjugend herstellen müssen.19Schreiben des Regierungspräsidenten in Schneidemühl an die Reichsjugendführung in Berlin vom 9. November 1938 (Konzept). In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Sein nicht gezeichnetes Schreiben endet mit der Aufforderung an Geserich, nun mit »mit dem Bau des H.J-Heimes […] unverzüglich zu beginnen« und der Regierung den Baubeginn anzuzeigen.20Schreiben des Regierungspräsidenten in Schneidemühl an Geserich vom 10. November 1938, a. a. O. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert.
Zwei Wochen später konnte Geserich der Regierung erste Erdarbeiten melden und die weitere Planung erläutern:
»Die Maurerarbeiten zu Herstellung des Sockels werden in etwa 2 Wochen beendet sein. Während der Wintermonate wird der Fachwerkbau vorbereitet, so dass in den Monaten März oder April, je nach der Witterung, weitergebaut wird.«21Schreiben Geserichs an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 24. November 1938. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert.
Dieser Zeitplan wurde allerdings nicht eingehalten. Wegen des Wintereinbruchs waren am 27. Januar 1939 erst die »Erdarbeiten und Betonfundamente ausgeführt«.22Schreiben Geserichs an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 27. Januar 1939. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Dort auch die weiteren Zitate. Die Maurerarbeiten am Feldsteinsockel des Heimes sollten »in Kürze« fortgeführt werden, falls »nicht wieder Frost eintritt«. Die Gesamtkosten des Projekts veranschlagte Geserich nun bereits auf 27 000 Reichsmark.

Am 10. März 1939 waren die Fundamente fertig gestellt und das für den Bau benötigte Holz angeliefert und geschnitten.23Schreiben des Preußischen Staatshochbauamts in Deutsch Krone an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 10. März 1939. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Für die Arbeiten am Fundament wurden dem Bauunternehmer in Tütz, Paul Boese, am 23. März 6000 Reichsmark aus der Staatsbeihilfe ausgezahlt.24Quittung von Paul Boese, Baumeister, ausgestellt Tütz, den 23. März 1939. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Am 11. April 1939 war der Bau schon so weit fortgeschritten, dass das Bauamt in Deutsch Krone – das jetzt offenbar doch die Bauaufsicht übernommen hatte – eine weitere Abschlagszahlung über 8000 Reichsmark befürwortete.25Schreiben des Preußischen Staatshochbauamts in Deutsch Krone an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 11. April 1939. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Im Juni des Jahres kam es erneut zu einer Verzögerung. Das Bauamt berichtete nach Schneidemühl:
»Die Fundamente sind bis zur Erdgleiche fertiggestellt. Die geschlagenen Feldsteine für den Fundamentsockel sind geliefert und angefahren. Mit dem Einschnitt des Verbandholzes konnte noch nicht begonnen werden, da das beantragte Schnittholz noch nicht freigegeben worden ist.«26Schreiben des Preußischen Staatshochbauamts in Deutsch Krone an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 20. Juni 1939. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert.
Zweieinhalb Monate später griff Hitler-Deutschland Polen an. Der Ausbruch des 2. Weltkrieg bedeutete einen Baustopp für alle zivilen Projekte – auch für das Heim der Hitlerjugend in Tütz. Bürgermeister Geserich zeigte sich in einem Schreiben vom 21. April 1940 dennoch optimistisch, den Bau fertigstellen zu können. Er meldete nach Schneidemühl, dass der Reichsschatzmeister der NSDAP – das war der SS-Obergruppenführer Franz Xaver Schwarz (1875-1947) – »die halbe Menge« des bislang fehlenden Bauholzes zur Verfügung gestellt habe.27Schreiben Geserichs an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 21. April 1940. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Dort auch die weiteren Zitate. Die andere Hälfte sollte laut Geserich »aus eigenen Beständen der Stadt Tütz entnommen werden«:
»Mit dem Weiterbau wird etwa Ende Juli 1940 begonnen werden. Ich werde zu gegebener Zeit wieder berichten.«
Dazu kam es jedoch nie. Im Dezember 1940 verließ Geserich Tütz, um eine unbekannte Funktion in Neutomischel – polnisch Nowy Tomyśl – im okkupierten Polen zu übernehmen. In Tütz vertrat ihn der Uhren- und Goldwarenhändler Wilhelm Nolky, der am 13. März 1941 als städtischer Beigeordneter den Stand des Projekts schilderte:
»An der Baustelle sind die Fundamente hergestellt sowie ein Teil der Baustoffe (Dachsteine und Feldsteine für den Sockel) angeliefert. Der Unternehmer hat außerdem einen Teil der Nadelschnittholzscheine zur Bearbeitung des Fachwerbaus erhalten. Die Bauarbeiten ruhen seit Kriegsausbruch.«28Schreiben Nolkys an den Regierungspräsidenten in Schneidemühl vom 13. März 1941. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Nolky führte seit mindestens 1912 ein Uhren- und Schmuckgeschäft in Tütz auf der Königstraße (der heutigen Ulica Konopnickiej). Westpreußisches Städtebuch 1912-1913, Teil P-Z, digitalisiert von W. Metzner, veröffentlich im Internet von J. Schulz auf baseportal.de, abgerufen am 17. Januar 2024. – Weitere biografische Daten zu Nolky sind nicht bekannt.
Nach den archivierten Akten ist es dabei auch geblieben. Im letzten darin befindlichen Schriftstück fordert die Regierung in Schneidemühl vom Bürgermeister in Tütz einen »erneuten Bericht über den Stand des Bauvorhabens ›HJ.-Heim Tütz‹ bis zum 1.5.1942«.29Schreiben des Regierungspräsidenten in Schneidemühl an den Bürgermeister in Tütz vom 6. März 1942, a. a. O. In: Sonderheft, a. a. O., unpaginiert. Diese Aufforderung ist auf den 6. März 1942 datiert – und wurde trotz zweimaliger Reklamation nie beantwortet. Es ist daher davon auszugehen, dass der Plan, in Tütz ein Heim der Hitlerjugend zu errichten, trotz vorhandener Finanzmittel nach einer sechsjährigen Planungszeit scheiterte.

Einige Fragen bleiben jedoch offen. So ist ist unbekannt, was mit dem Bauplatz und dem vorhandenem Baumaterial geschah. Ist die Bauruine einfach zugewachsen oder wurden die Fundamente im Krieg oder in der Nachkriegszeit zu anderen Zwecken verwendet?
Auch über die Organisation der Hitlerjugend in Tütz ist nichts bekannt. In den Akten wird kein Angehöriger der Ortsgruppe namentlich benannt; die Organisation erscheint ohne Eigenleben lediglich als Objekt der Pläne Dritter. Die 1934 geborene Zeitzeugin Ursula Koltermann bestätigte mir in einem Interview, dass es in der Stadt bis 1945 eine aktive HJ-Gruppe gab, wusste aber nicht anzugeben, ob diese Gruppe einen festen Treffpunkt hatte.30Interview des Verfassers mit Ursula Koltermann geborene Heymann, die auf einem Bauernhof in Tütz aufwuchs, am 8. Februar 2024. Frau Koltermann lebt heute in Overath. Sie gab an, dass viele der älteren Jugendlichen gern zu Treffen der Hitlerjugend gingen, weil die Uniform einen gewissen Status gab und es schöner war, »zu Singen, als auf dem Hof mitzuarbeiten«. Ihren beiden älteren Geschwistern wurde die Teilnahme jedoch von den (katholischen) Eltern verwehrt.
Zu den offenen Fragen gehört gleichfalls die nach der weiteren Verwendung des Armenhauses, das Bürgermeister Geserich ursprünglich zum HJ-Heim umbauen wollte. Das Gebäude ist zwar mit der Eigentumsangabe »Stadt« in einem retrospektiven Liegenschafts-Plan eingezeichnet, den Klemens Wiese 1957 in Dinslaken zeichnete, aber es ist unklar, welche Datierung der Zeichnung zu Grunde liegt.31Tütz, Kreis Deutsch Krone, Grenzmark Posen-Westpreußen. A. a. O. Das Grundstück des ehemaligen Armenhauses hat jedenfalls bis heute den gleichen Zuschnitt behalten und ist auch immer noch bebaut.

Weil Akten und Zeitungen fehlen ist zudem unbekannt, wer in Tütz Bürgermeister wurde, nachdem Geserich die Stadt im Dezember 1940 verlassen hatte. Geserichs weiteres Schicksal ist hingegen bekannt: Nach einem kurzen Aufenthalt in Neutomischel wurde er im Februar 1941 zum Bürgermeister und NSDAP-Kreisamtsleiter in Kosten (polnisch Kościan) ernannt.32Diese und die nachfolgenden Angaben nach: Ministerium für Politische Befreiung …, a. a. O., Blatt 3. Dieses Amt behielt er bis zum 1. Oktober 1944, dann wurde er von der Wehrmacht in das Landesschützen-Ersatzbataillon nach Hildesheim eingezogen. Das Kriegsende erlebte Geserich, der ein Auge verloren hatte und unter Lungentuberkulose litt, in Baden. Da er auf einer Liste führender Nazis stand,33John Franklin Carter: Files on German Key Nazi Party Members 1933-1945, In: President Franklin D. Roosevelt’s Office Files (Mikroverfilmung 1994), Reel 9, Frame 0741. wurde er vom 16. Juni 1945 an in den US-Internierungslagern Bad Mergentheim und Karlsruhe festgehalten und im November 1946 nach Bettenhausen in Hessen entlassen.34Amerikanische Interniertenkartei: Personenakte Geserich, Paul. Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand EL 904/2 Nr 19411. Im Rahmen der Entnazifizierung musste sich Geserich in Hessen einem Spruchkammerverfahren stellen.35Spruchkammer Gießen: Fallakte Geserich, Paul in Bettenhausen 1946-1949, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Signatur 520/16 Nr. 10056. Spätestens ab 1954 arbeitete er in Gießen als Rechtsanwalt in der Kanzlei des rechtskonservativen CDU-Bundestagsabgeordneten Ludwig Schneider (1898-1976).36Notare, Rechtsanwälte, Sachverständige. In: Adressbuch für Stadt und Kreis Gießen, 1954, S. 23. In Gießen ist Geserich im Frühjahr 1967 auch verstorben.37Beschluß. In: Offentlicher Anzeiger zum Staats-Anzeiger für das Land Hessen, 1. Mai 1967, S. 544. Zu den Vertriebenen aus Tütz, die in Westdeutschland lebten, hat er nie Kontakt aufgenommen.
